Naturwissenschaft und Offenbarung

Bernhard Philberth

Diesen Vortrag hielt Bernhard Philberth auf der religiösen Arbeitstagung des Malteser-Ritter-Orderns in
Bad Wimpfen a. Necker (5. bis 7. April 1963).

© Karl Philberth

Sehr geehrte Damen und Herren!

Dieser erste Vortrag behandelt das Thema « Naturwissenschaft und Offenbarung »; insbesondere das Verhältnis des Naturwissenschaftlers zum Glauben an die göttliche Offenbarung. Dieses Thema ist aktuell insofern, als heute vielfach die Ansicht vertreten wird – vor allem auf Seiten des dialektischen Materialismus, des « Diamat » –, daß es bei dem fortgeschrittenen Stand der Naturwissenschaften einem gebildeten Menschen unmöglich sei, an Gott, an die Offenbarung der Bibel und an die Sendung der Kirche zu glauben. Diese Ansicht war vor einigen Jahrzehnten in den höheren Gesellschaftsschichten Mode, gilt aber heute bei den Exponenten der Naturwissenschaft als überholt. Jedoch in der allgemeinen Bevölkerung, die gleichsam mit einem Phasenverzug reagiert, ist diese überholte Ansicht mittlerweile zu einer mehr oder weniger bewußten Grundhaltung geworden. Man hält die Technik für die Realität schlechthin, welche man als praktische Auswirkung der Physik und allgemein der Naturwissenschaft betrachtet. Unter den Gegebenheiten der modernen Industriegesellschaft bestimmt immer mehr der Ingenieur und der Naturwissenschaftler – vor allem durch den Physiker – das Gefüge der Umwelt und damit auch die allgemeine Geistesstruktur; ohne daß er dafür eigentlich zuständig wäre und ohne daß er es eigentlich wollte.

Es ist deshalb ein Gebot der Zeit, über das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Offenbarung zu sprechen.

Was ist Naturwissenschaft? Wie schon der Name sagt, schafft sie Wissen über die Natur, über die physikalischen, chemischen und biologischen Dinge der Welt. Gegenstand der Naturwissenschaft ist also das materielle Dasein. Aber auch die Naturwissenschaft kann das eigentliche Wesen der Materie, des Raumes und der Zeit nicht erklären. Sie kann immer nur Phänomene, Erscheinungsformen aufeinander zurückführen und der praktischen Beherrschung durch den Menschen etwa in der Technik zuführen. Die Naturwissenschaft kann die Mannigfaltigkeit der chemischen Verbindungen auf Bindungen von wenigen Atomarten zurückführen, kann die Atome als kreisende Systeme von Elementarteilchen darstellen, kann die Elementarteilchen als wechselnde Erscheinungsformen eines Energiefeldes beschreiben, sie kann über die Entstehung der Erde und ihrer Lebewesen, ja sogar über Entstehen und Verhalten des Weltalls Auskunft geben. Die Naturwissenschaft kann Naturgesetze entdecken und damit all dies erklären und eine gigantische Machtentfaltung begründen, kraft der wir das Atom spalten und hinter den Mond gelangen können. Diese naturwissenschaftliche Erkenntnis und die daraus gefolgte praktische Beherrschung der Natur hat zwar ungeheuerliche Formen angenommen. Aber die eigentlichen Seinsgründe der Natur bleiben der Naturwissenschaft verschlossen. Es bleibt ihr verschlossen, woher eben diese großartigen Gesetze kommen, die dieses erstaunliche, unvorstellbar gewaltige Entstehen und Geschehen ermöglichen. Warum letztlich Raum, Zeit und Materie so sind, wie sie eben sind, und nicht einfach irgendwie ganz anders sind, warum Raum, Zeit und Materie dasind und nicht nicht-da-sind, bleibt der Naturwissenschaft grundsätzlich verschlossen; soweit sie auch immer gelangen mag. Erst recht sind der Naturwissenschaft Dinge verborgen, die jenseits ihres Forschungsbereiches und außerhalb ihrer Methodik liegen; insbesondere die Bereiche des Glaubens, der göttlichen Offenbarung, überhaupt der Übernatur in all ihren Bereichen. Früher glaubte man, mit Fortschreiten der Naturwissenschaften die Welt erklären und die « Hypothese Gott » entwerten zu können. Zwingende Beweise für oder gegen Gott ergeben sich aus der Naturwissenschaft nirgends. Aber je tiefer man in die Physik, in die Naturwissenschaft eindringt, um so überwältigender wird die Sinnhaftigkeit und Großartigkeit der Welt – und um so eindringlicher deuten die Dinge auf einen allgewaltigen Gott hin.

Wenn die Naturwissenschaft nicht in der Lage ist, an die Grundlagen des Seins heranzureichen, kann man dann nicht die Naturwissenschaft bei der Betrachtung der Offenbarung einfach beiseite lassen? Diese Folgerung verfehlt die tiefere Bedeutung der Naturwissenschaft gänzlich.

Naturwissenschaft und Offenbarung ist kein Gegensatz. Im Grunde besteht zwar keine Beziehung zwischen der Naturwissenschaft und der Offenbarung derart, daß etwa der Glaube an die göttliche Offenbarung des Wissens der Naturwissenschaft bedürfe. Aber wenn auch die Schöpfung eine gewaltige Hierarchie mit sehr verschiedenen Ebenen, mit sehr verschiedenen Seinsmächtigkeiten darstellt, so ist sie doch ein Ganzes. Deshalb hat die Physik ebenso wie die Theologie ihre Aufgabe von vorneherein verfehlt, wenn sie – das andere mißachtend – ein Eigenleben innerhalb dieser Schöpfung installiert. Dies führt zu jener furchtbaren Schizophrenie der Geisteswelt, die unsere Gegenwart kennzeichnet.

Schuster bleib bei deinen Leisten!? Gewiß ist es richtig, daß man von einem Physiker kein Urteil über theologische Probleme erwarten kann, das die Fachtheologen befriedigt – und gewiß sind auch von einem Theologen keine Urteile über physikalische Probleme zu erwarten, die den Physiker befriedigen. Gewiß ist es für einen Physiker bequemer und weniger riskant, sich als Physiker nicht mit Fragen der Theologie abzugeben – und gewiß ist es für einen Theologen bequemer und für sein Prestige weniger riskant, sich von allem ängstlich fernzuhalten, was mit Physik irgendwie zusammenhängt. Aber damit ist er den Gefahren nicht entkommen. Ohne den ordnenden Geist einer auf die Offenbarung gegründeten Theologie führt die Naturwissenschaft zu jener hemmungslosen, physikalisch-technischen Machtentfaltung, die heute alles Leben mit der Vernichtung bedroht. Und in Ablösung von den physikalischen, chemischen, biologischen Fakten der Naturwissenschaft ergibt sich jene weltfremde, sterile Theologie, die in der modernen Industriegesellschaft keinen Boden und keine Glaubwürdigkeit findet. Nicht die Dilettanten, sondern die Spezialisten bedrohen heute unser Sein in seinen materiellen wie geistigen Grundlagen.

In der Physik und in der Theologie sind Geisteswelten entstanden, die durch trostloses Niemandsland getrennt sind; mit vielen Zöllnern und ohne Reisende. Gewiß besteht die Gefahr von Grenzüberschreitungen mit folgenschweren Fehlurteilen, wenn Fachleute in eine andere Geisteswelt eindringen, denn jede Wissenschaft hat ihre Grenzen, die durch ihre besondere Methodik und ihren besonderen Forschungsgegenstand gegeben sind. Aber nicht mit Scheuklappen wird dieser Gefahr begegnet, sondern mit gewissenhafter Prüfung der anderen Wissenschaft. Dies ermöglicht dem Physiker ein verantwortliches Werturteil über die Aussagen der Theologie – und dem Theologen ein verantwortliches Werturteil über die Aussagen der Physik. Aber nur mit einem klaren Werturteil können wir heute dem beängstigenden Auflösungsprozeß begegnen.

Bis ins Mittelalter beherrschte die Theologie praktisch uneingeschränkt den geistigen Raum. Es war eine Geisteswelt entstanden, aus der sich unvermeidlich schwere Zusammenstöße mit den aufkommenden Naturwissenschaften ergaben und heute noch ergeben. Besonders bedeutungsvoll war vor einigen Jahrhunderten die Festigung des kopernikanischen Weltsystems, war vor einigen Jahrzehnten die Entdeckung der Entwicklungsgeschichte der Menschengestalt – und sind heute die revolutionären quanten- und invarianten-physikalischen Erkenntnisse. Bei diesen dramatischen Zusammenstößen ist viel zerschlagen worden. Aber man sollte heute mehr die segensreichen Folgen aus diesen Kämpfen und Konflikten sehen. Wir haben viel daraus gelernt. Die Naturwissenschaft hat ihre Schranken erkannt und es ist eine geläuterte Theologie daraus hervorgegangen. Die Theologie, die viel von ihrem menschlichen Beiwerk verloren hat, ist eben dadurch befähigt worden, heute um so klarer und wirksamer ihrer Aufgabe zu dienen. Ich habe den Eindruck, daß eben jene Zusammenstöße schließlich zu einer gegenseitigen Ergänzung von Naturwissenschaft und Theologie und zu fruchtbarer Zusammenarbeit führen werden. Ich habe den Eindruck, daß wir noch mit großen Erkenntnissen der Theologie rechnen können, vielleicht auf einer neuen Ebene.

Betrachten wir konkret die Bedeutung des kopernikanischen Weltsystems mit seiner Fortentwicklung zur modernen Astronomie im Verhältnis zur Offenbarung. Früher – bis ins Mittelalter – dachte man sich die Erde als flache Scheibe, über welche sich der Himmel an dem Ende der Erdscheibe aufgestützt spannte. In diesem alten Weltsystem war die Erde selbstredend der einzige Raum irdischen Geschehens. Die Vorstellung fand einen « Raum » für die Hölle unter dieser Erdscheibe und einen « Raum » für den « Wohnsitz » Gottes über diesem Himmelszelt. Mit dem kopernikanischen Weltsystem wurde die Erde als eine verhältnismäßig kleine, rotierende Kugel festgestellt, die mit vielen anderen Planeten die Sonne umkreist. Heute hat man die physikalisch-astronomische Welt als gekrümmten endlichen Raum erkannt mit einigen Milliarden Lichtjahren Durchmesser und erfüllt mit Trilliarden sonnenähnlicher Fixsterne und gewaltigen kosmischen Staub- und Gasmassen.

Nach neuesten Forschungen ist das Weltall nicht nur räumlich und in seiner Masse endlich, sondern auch zeitlich endlich. Es ist vor einigen Milliarden Jahren entstanden. Die Materie, die allgemein-relativistisch als Krümmung des Raum-Zeit-Kontinuums beschreibbar ist, ist nicht in den leeren Raum und in eine leere Zeit hineingestellt worden, sondern zusammen mit Raum und Zeit entstanden. Gleichsam in der ersten Weltsekunde war der Weltraum und die Weltmasse noch sehr klein und haben sich mit der Zeit laufend vergrößert; derart, daß die Gesamtenergie zu allen Zeiten immer Null war.

Was bedeuten diese Fakten in Hinsicht auf die Offenbarung? Der moderne Wissenschaftler ist geneigt zu sagen: « Gar nichts ». Aber was haben sie in der Vorstellungswelt der früheren Theologen bedeutet? Man war befangen in der räumlichen Vorstellung des Himmels, des Wohnsitzes Gottes und man war befangen in der Vorstellung, daß die überweltliche Größe der Heilsgeschichte im räumlichen Mittelpunkt der Welt stattfinden müsse. So sehr waren die Theologen und mit ihnen alle Schichten der Bevölkerung in diesen Vorstellungen befangen, daß die Erkenntnis des Weltraums den Zusammenbruch der theologischen Aussagen schlechthin zu bedeuten schien: Wo ist in diesem Weltsystem der Raum für Himmel und Hölle geblieben? Was bedeutet diese winzige Erde, irgendwohin geworfen in einen unvorstellbar großen, aber endlichen Raum? Wo wohnt Gott? An Stelle einer Besinnung wurde ein Kampf gegen physikalische Fakten aufgenommen, der von vorneherein zum Scheitern verurteilt war.

Heute schließt kein Vernünftiger mehr aus diesen physischen Fakten, daß es keinen Gott, keinen Himmel und keine Hölle gäbe. Und je weiter die Physik fortschreitet, um so weniger wird durch sie ein Dasein Gottes ausgeschlossen. Gerade die Invariantenphysik, die Relativitätstheorie, die Raum und Zeit in Korrespondenz mit der Materie als strukturiert und relativiert feststellt, läßt über sich ein machtvolles Dasein ganz anderer Art ahnen: Gott ist Geist, er ist als Schöpfer der Materie auch der Schöpfer von Raum und Zeit; Er ist also selbst nicht ein Einwohner in den von Ihm geschaffenen Räumen und Zeiten, sondern der überräumliche und überzeitliche Herr. Das Dasein Gottes ist eben ein ganz anderes Sein als das Dasein alles Geschaffenen; über Raum, Zeit und Materie und nicht in Raum, Zeit und Materie. Er hält gleichsam mit der Gewalt seines allmächtigen Schöpferwillens alle Räume, Zeiten und Massen im Dasein.

Die Physik, die Naturwissenschaft, hat also nicht nur keine Entwertung der Theologie gebracht, sondern sie vielmehr gezwungen, zu einer großartigeren Schau Gottes zu gelangen. Aber diese großartige Schau bringt für die Theologie eine neue Gefahr gleichsam in der entgegengesetzten Richtung: Zu weitgehend in diese Überräumlichkeit und Überzeitlichkeit Gottes und Seines Reiches auszuweichen – und damit den Boden des Alltages zu verlieren. Gewiß hat auch die Heilsgeschichte auf der Erde irgendwie Teil an dieser Überräumlichkeit und Überzeitlichkeit des Geistes. Aber das irdische Geschehen unterliegt dennoch der Sklaverei des Raumes und der Zeit und knüpft sich an die Materie, an Fleisch und Blut. Mag unsere Erde noch so winzig und verloren im Raum des Weltalls kreisen: Sie ist als von Gott erwählter Ort Seines Heilsplanes der Mittelpunkt der Geschichte. Der Mensch, der zu Gott « Vater » sagt, ist so für Gott mehr als alle Massen des Weltalls. Um den Glanz Seiner Herrlichkeit, Seiner Liebe und Seines Friedens in diese unsere Zeit, in diesen unseren Raum und in diese unsere greifbare Materie hereinzutragen, ist Christus zu einer ganz bestimmten Zeit vor 2000 Jahren, an einem bestimmten Ort in Palästina und in einer ganz bestimmten Familie in diese unsere Welt hereingetreten. Es besteht heute die Gefahr, diesen anderen Aspekt der konkreten Einordnung des Heilsgeschehens in die Zeit der Menschheitsgeschichte zu übersehen.

Betrachten wir konkret die Probleme der Entstehung des Menschen:

Die Erkenntnisse der Chemie und der Biochemie machen es immer wahrscheinlicher, daß die Entstehung des Lebens durch autokatalytische Aufschaukelung aus organischen Verbindungen erklärbar ist; aus etwa den Aminosäuren und Pyridinbasen, die durch elektrische Entladungen in der Wasserdampf-Methan-Ammoniak-Uratmosphäre entstanden sind. Auch die Entstehung der leiblichen Gestalt des Menschen aus dem Tierreich in späteren Epochen der Erdgeschichte wird immer wahrscheinlicher. Daß verschiedene prähistorische Affenarten dem Menschen biologisch außerordentlich nahe verwandt sind, wird immer deutlicher. Die Biologie, die Naturwissenschaft, ist in der Lage, Auskunft über die Zeiten und Wege dieser natürlichen Entwicklung zu geben – und kann in dieser Hinsicht theologische Aussagen korrigieren. Aber so interessant dies alles sein mag und so aufschlußreich dies über die leibliche Herkunft des Menschen ist, so wenig sagt dies aber über das eigentliche, geistige Wesen des Menschen etwas aus. Alle bewunderswerte Wissenschaftlichkeit der Biologie endet vor der entscheidenden Frage, vor der Kardinalfrage, ob der Mensch allein das Ergebnis biologischer Entwicklung ist oder ob im Menschen durch einen neuen Schöpfungsakt eine aus natürlicher Evolution entstandene Gestalt zum Träger einer ganz neuen Seinsmächtigkeit geworden ist; in einem Angerufensein, als Geist vom Geiste des lebendigen Gottes. Ja, es ist für diese entscheidende Frage sogar gleichgültig, ob die Schaffung des Menschen als geistiges Wesen spontan erfolgt ist oder sich gleichsam einer fortschreitenden Evolution der Menschengestalt angepaßt hat. Somit ist diese entscheidende Frage, ob der Mensch nur natürliche Evolution oder in besonderer Weise von Gott angerufen ist, bis in die letzte Konsequenz der Zuständigkeit der Biologie entrückt. Diese Frage kann nur die göttliche Offenbarung beantworten, welche uns von der Theologie erklärt wird. Die Theologie lehrt uns aber, daß in der Genesis ein besonderer Schöpfungsakt Gottes geoffenbart ist. Nur dem Leibe nach ist der Mensch Tier; seinem Geiste nach, mit dem er von den Grenzen des Atomaren bis an die Grenzen des Kosmischen die Welt erkennend durchdringt, mit dem er Gut und Böse unterscheidet und zum Schöpfer des All « Vater und Herr » spricht, ist er über das Tier erhaben und « nur wenig unter die Engel gestellt ». In einem richtigen theologischen Verständnis der Offenbarung der Genesis wird die Theologie von der Biologie nicht berührt. Aber die Biologie, die Naturwissenschaft, hat dennoch dazu beigetragen, die Theologie zu einem besseren und tieferen Verständnis der Offenbarung hinzuführen.

Die Auseinandersetzung zwischen Biologie und Theologie in Fragen der Evolution hat vor einigen Jahrzehnten die Gemüter erhitzt. Heute ist die Kampfeshitze ins Leere verpufft, nachdem die Scheinproblematik sichtbar wurde. Aber in einem ganz analogen Zusammenhang tritt heute eine ganz ähnliche Problematik in Erscheinung; in der Frage über das Wesen der Endzeitreden Christi und der Geheimen Offenbarung, des letzten Buches des Neuen Testaments der Bibel.

Manche Exegeten meinen heute noch, man könne das eigentliche Wesen der Geheimen Offenbarung durch Betrachtung der Vorgeschichte der alttestamentarischen und orientalischen Sprach- und Bildgestalten und durch Betrachtung der literarischen Gattungen äußerlich ähnlichen Schrifttums wie etwa der Hennoch-, Baruch- oder Esra-Apogryphen erfassen. Aber historische und literarische Betrachtungen vermögen ihrem Wesen nach nicht mehr als die äußere Form zu beurteilen. Mit den gleichen Sprach- und Bildelementen können ebenso mythologische, romanhafte menschliche Schriftwerke gestaltet werden – wie auch unmittelbare Offenbarungen des lebendigen Gottes. Auch eine Offenbarung Gottes kann die gegebenen Sprach- und Bildformen benutzen, wenn sie nicht ganz neue Formen erfinden will, die die Offenbarung noch unverständlicher erscheinen lassen würden. Ob eine Schrift irgendwelcher Kritik unterwerfbar ist, oder ob eine Schrift unmittelbare Offenbarung Gottes ist, ist allein dadurch bestimmt, ob Gott eine Niederschrift mit dem Geist Seiner Prophetie zu erfüllen beliebte oder nicht. Dies ist also allein eine Sache des souveränen Schöpferwillens Gottes, der grundsätzlich über jeder wissenschaftlichen Kritik steht, ja sogar selbst erst die Grundlage jeglicher wissenschaftlichen Urteilsmöglichkeit begründet.

Der Geist weht wo er will – und keine Analyse der äußeren Form und ihrer Herkunft reicht hin, die Reichweite der göttlichen Offenbarung abzugrenzen. Die Philologie kann und muß die Bedeutung der Wörter und Begriffe klären und die Geschichts- und Literaturforschung kann und soll die Herkunft und Entwicklung der Sprach- und Bildgestalt aufdecken. Und in diesem Umfang sind diese Wissenschaften von einer Bedeutung, die nicht hoch genug geschätzt werden kann und alle Mühe und Sorgfalt rechtfertigt. Aber die Frage, welche Offenbarungsmächtigkeit Gott kraft Seines allmächtigen Willens einem Schriftwerk über eben diese geistesgeschichtliche Entwicklung hinaus einer niedergeschriebenen Offenbarung zu geben beliebte, ist überhaupt keine Frage der Geschichts- und Literaturforschung und einer sich darauf stützenden Exegese.

Wir sehen ein erstaunliches Analogon, dessen genaue Prüfung lohnt: Wie ehedem Biologen – in einer unzulässigen Grenzüberschreitung des biologischen Aspektes – die leibliche Abstammung des Menschen zum Kriterium für das eigentliche Wesen des Menschen machten, so wird eben manchmal noch heute von Exegeten die Sprach- und Bildgestalt der Geheimen Offenbarung als hinreichendes Kriterium für die Beurteilung ihres wahren Wesens angenommen. Dies erscheint heute als eine Grenzüberschreitung des historischen und literarischen Aspektes. Wie die Biologie – ihrem Wesen nach – nicht mehr zu erklären vermag als die Entstehungsgeschichte der leiblichen Gestalt des Menschen aus den biologischen Gegebenheiten der Umwelt, so vermag die exegetische Geschichts- und Literaturforschung ihrem Wesen nach nicht mehr zu erklären, als die Entstehungsgeschichte der äußeren Sprach- und Bildgestalt der Geheimen Offenbarung aus den Elementen des Alten Testaments, aus dem allgemeinen Volksbewußtsein und aus der weiteren orientalischen Geisteswelt. Wie es allein vom Schöpferwillen Gottes abhängig war, wenn Er einen Tierkörper als Gefäß und eine natürliche Evolution als Instrument für die Schaffung eines geisterfüllten Menschen benutzte, so ist es auch allein vom Offenbarungswillen Gottes abhängig, wenn Er die Elemente altherkömmlicher und durch die alten Propheten vorbereiteter Sprach- und Bildgestalten für eine Offenbarung ganz neuer Qualität zu benutzen beliebte. Eine Exegese, die sich dieser Möglichkeit einer unbedingten Offenbarung des lebendigen Gottes verschlösse, bliebe von vorneherein im Äußerlichen und buchstäblich Formalen haften. Bei aller bewunderungswürdigen Wissenschaftlichkeit und Sorgfalt wäre eine solche Exegese gerade in der entscheidenden Hinsicht gähnend leer.

Betrachten wir noch die wesentlichen Ergebnisse der modernen heutigen Physik, die sehr weitgehend die Einstellung des Physikers und Naturwissenschaftlers zur Offenbarung bestimmen und sehr weitgehende Konsequenzen für die Theologie ergeben. Ich will diese Ergebnisse nur andeuten:

Von grundlegender Bedeutung wurde die Invariantenphysik, die relativistische Physik. Die relativistische Physik ist die Physik des räumlichen, zeitlichen und materiellen Daseins, der Raum-, Zeit- und Massegrößen, der möglichen physikalischen Zustände, der sogenannten physikalischen Systeme. Die relativistische Physik ist der essentiell-physikalische Aspekt der Welt. Die wichtigsten Ergebnisse sind die Relativität und Endlichkeit von Raum, Zeit und Materie; ferner die Strukturiertheit des Raum-Zeitkontinuums in Wechselwirkung mit der Materie und mit materiellen Ereignissen. Die Physik ist grundsätzlich nicht in der Lage, über das Überweltliche Aussagen zu machen. Aber es ergeben sich daraus dennoch überaus interessante Ausblicke auf die Möglichkeiten eines überräumlichen und überzeitlichen Daseins und lassen gewisse theologische Probleme – etwa über die Prädestination – in einer überraschenden Weise als Scheinprobleme offenkundig werden. Diese Ausblicke ergeben sich im Sinne von Abschätzungen. Man kann Wesen mit übermateriellem Sein mindestens den Grad von räumlicher und zeitlicher Macht und Freiheit zubilligen, wie es der Materie oder etwa dem Lichte zukommt. Man kann ferner annehmen, daß die Grenzen der Anwendbarkeit unseres logischen Denkens auf physikalische Systeme erst recht Grenzen der Anwendung unseres Denkens auf überphysikalisches Sein darstellen; auf Seinsmächtigkeiten jenseits des Materiellen, die uns sicher weniger greifbar sind, als das gleichsam unter uns stehende Materielle. Die Theologie erfährt hierdurch keine Einschränkung ihrer Entfaltung, sondern eine Bereicherung.

Eine ebenso einschneidende Bedeutung hat die Quantenphysik erlangt. Die Quantenphysik ist die Physik der Reaktionen der materiellen Körper im Raume und in der Zeit. Die Quantenphysik ist der aktuell-physikalische Aspekt der Welt. Die wichtigsten Ergebnisse sind die Feststellung bestimmter Grenzen logischen Denkens. Die Physik kann Gott nicht beweisen und nicht widerlegen – und sie kann weder die Wunder noch die Freiheit des Menschen erklären. Aber sie kann die Großartigkeit der Schöpfung offenkundig machen. Sie kann das Bild einer Schöpfung entwerfen, in welcher sich Gesetz und Wunder zwanglos vereinigen; eine Schöpfung, die – gleichsam wie die Maschine eines guten Ingenieurs – selbständig zu funktionieren vermag, aber zugleich zwanglos und ohne in ihrer wesenseigenen Funktion durchbrochen werden zu müssen, dem Willen des Schöpfers immer und überall offen steht. Die Physik, obgleich selbst das Produkt unvergleichlich nüchternen und klaren logischen Denkens, hat heute die Grenzen unseres an der näheren Umwelt approbierten Denkens offenkundig werden lassen – und somit den Blick auf geistige Ordnungen ganz anderer Art freigegeben. Sie hat offenkundig gemacht, daß die geschaffene Realität – schon im Bereiche des Materiellen – die Möglichkeiten des Menschendenkens grundsätzlich übersteigt und hat damit eine Abschätzung der Grenzen jeglicher Wissenschaften gegeben. Wir können eben nicht erwarten, daß Gott der Herr und Schöpfer der Welt mit Gedankenoperationen erfaßbar ist, die schon nicht mehr auf die Fermistatistik der Metallelektronen anwendbar ist. Gerade je mehr man von der Theologie und ihrem Arbeitsgebiet hält, um so einschneidender tritt diese Grenze in Erscheinung.

Für die diesseits orientierten Ideologien, die auf Gedeih und Verderb von den in Raum, Zeit und Materie verhafteten Voraussetzungen und von der grundsätzlichen Zuständigkeit menschlichen Denkens abhängen, sind diese Ergebnisse tödlich. Der stärkste Feind des dialektischen Materialismus, des Diamat, ist die Physik. Ohne jede Polemik von Seiten der Physiker – gleichsam als Begleiterscheinung – wird der dialektische Materialismus von der Physik Jahr um Jahr zu immer vernichtenderen Rückzügen gezwungen.

Auch die Theologie wird von dieser abschätzenden Grenzziehung nicht berührt, solange sie sich auf die göttliche Offenbarung selbst stützt. Die göttliche Offenbarung steht über der Reichweite jeglicher Naturwissenschaft, jeglicher Philosophie und Logik, und auch über jeglicher Theologie. Die immer mehr sichtbar werdenden Grenzen im menschlichen Denken überhaupt, die für die diesseits orientierten Ideologien tödlich sind, tragen in der Theologie nur dazu bei, das menschliche Beiwerk abzuschälen und die Gewalt und Großartigkeit der göttlichen Offenbarung um so klarer und leuchtender hervortreten zu lassen.

In dem Maße, als die Physik im Hinblick auf die Theologie ihre Grenzen erkennt – und umgekehrt die Theologie im Hinblick auf die Physik ihre Grenzen erkennt –, werden sich diese Wissenschaften in gegenseitiger Befruchtung begegnen. Ich bin der Überzeugung, daß dies bald sein wird. Die Theologie – ebenso wie die Physik – ist Wissenschaft, ist letztlich Machwerk menschlicher Erkenntnis. Paulus sagt im « Hohen Lied der Liebe »:

All unser Erkennen ist Stückwerk; Vollkommenheit allein ist in der Liebe und Hingabe.

Eben in der Hingabe an das Wort Gottes. Gott selbst sagt uns:

Der Weisen Weisheit mache ich zunichte, verwerfe der Verständigen Verstand.

Und Christus preist Gott Vater jubelnd: Herr, Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde, ich preise Dich, daß Du dies vor Klugen und Weisen verborgen, Kleinen aber offenbar gemacht hast. Ja, Gott, so war es Dir wohlgefällig.

Welcher Theologe und welcher Physiker darf es wagen, sich und seine Wissenschaft über diese Worte zu stellen.

Die Offenbarung steht über allem. Kein menschlicher Beweis vermag sie zu stürzen oder sie umgekehrt zu unverlierbarem Besitz der Menschen zu machen. Zwingende Beweise gibt es nicht. Aber je mehr und tiefer man die Schöpfung betrachtet, um so klarer wird demjenigen der Schöpfer darin erkenntlich, der Gott erkennen will. Gott hat uns bis zum Letzten Freiheit gegeben. Er zwingt niemanden. Aber Er tritt immer und überall sichtbar vor uns.